Hutlos im Bleibtreu

Savignyplatz. Hinter der Schaufensterscheibe: schicke Hüte aller Art, fein aufgereiht, dezente Preisschilder verraten: bei 300,- € geht´s los. Das Label dazu heißt This is no hats.
Bin zu müde, um über den tieferen Sinn dieses Namens zu fabulieren.

Schaufenster wie diese sind im übrigen ein Touristenindikator. Blondgesträhnte Teenagertöchter beölen sich mit der Nase an der Scheibe über die schrägen Designs,  mittelalte Segelschuhträger regen sich betont lautstark über die Preise auf.  Und so weiter.
Nur die, die die Miene nicht verziehen und cool so tun, als würde das alles hier irgendeinen Sinn ergeben und als hätten auch sie mindestens zwei 300€-Hüte im Schrank:  das sind die Berliner.
Wie ich…
Manchmal finde ich ehrliches Aufregen ja definitiv sympathischer als diesen ewigen Berliner Hochtrab. Muss ich bei Gelegenheit mal ausprobieren. Ohne Segelschuhe allerdings.
Gehe ein paar Schritte weiter und betrete das Café Bleibtreu. Manchmal ist ein Glas trockener Weißwein wichtiger als ein teurer Hut. Das Licht ist warm, die Bedienung nordisch-kühl, der Thunfischsalat wunderbar unvegan – und aus dem Radio singt James Brown „I feel good.“

Als ich gerade selbst zu zweifeln beginne, ob wir das Jahr 2015 schreiben, höre ich wie die alte Dame am Tisch gegenüber die Kellnerin in ein Gespräch verwickelt. Vom Lob des Flammkuchens schlägt sie einen eleganten Bogen zu den Elsaß-Urlauben mit ihrem verstorbenen Mann, Gott hab ihn selig, und den Zeiten in den Siebzigern, in denen sie selbst ja mal hier, hier in der Bleibtreustraße gewohnt habe. Sie sei heute am Kudamm gewesen, fragt nach dem Verbleib von Kaufhäusern der guten alten Art, solche, wo man „reingeht und alles kriegt.“ Die Kellnerin weiß Rat und erklärt ihr freundlich den Weg zum Alexa. Vom Savignyplatz 8 min. mit der S Bahn. Allein – dort traut sie sich nicht hin, die Dame, das sei doch der Osten, das sei ihr so fremd, da fühle sie sich unwohl. Gefragt, wann sie das letzte Mal dort gewesen sei, antwortet sie, das müsse so um 1981 gewesen sein. Geduldig erklärt die Kellnerin, dass es gar nicht mehr so gefährlich sei dort, der kalte Krieg zu Ende, die Mauer gefallen und so. Und ja, es gibt sogar Leute wie sie selbst, die dort wohnen, in Mitte…
Die alte Dame starrt sie an wie ein Ufo. Ob das jetzt negative Konsequenzen auf das Trinkgeld hat, schießt es mir durch den Kopf? Oder positive? Ich meine, vielleicht legt sie noch was drauf, für ein paar Extra-Bananen?
Als die alte Dame gefragt wird, ob sie noch einen Amaretto aufs Haus möchte, ist ihre Welt wieder im Gleichgewicht.

Schnitt.

Ich höre den Barmann mit seinem italienischen Akzent über den Tresen gurren. Eine weinselige graublonde Pädagogin sinkt nach und nach tiefer in den Barhocker. Oder ist es mehr ein Abrutschen?

Schnitt.

Das Paar am Nebentisch erkundigt sich bei der Kellnerin, ob das Gericht Nr. 7 ein „richtiges“ sei oder eher die Größe einer Vorspeise hätte? Die Gefragte ringt um passende Worte und sagt dann schließlich
„Also… die Teller sind sehr groß.“
Als wir alle lachen, auch ich am Tisch nebenan, wird sie blass und bittet uns, dem Chef nicht zu verraten, dass sie das gesagt hat. Wir geben ihr unser Wort.

Schnitt.

Aus dem Radio singt es „All of me, why not take all of me?“.
Gesagt, getan. Trinke den Weißwein aus, der ist lecker, bestelle noch ein Glas.

Schnitt.

Kool and the Gang singen „Cherish“ und ich denke spontan an Lambrusco, Blues und die Klassenfahrt in der Siebenten. Grinse verklärt in die Gegend. Leider in Richtung des italienischen Barmanns, der begeistert zurückgrinst. Verflixt, das war keine Absicht. Andererseits sieht er echt nett aus. Hm. „Bleibtreu“ kriegt gerade eine ganz neue Bedeutung.
Seine Pädagogin ist inzwischen im Gespräch mit einem ebenfalls schon tiefergelegten Künstlerverschnitt. Schüttere Locken wallen um einen schwarzen Brillenbalken an schwarzem Rollkragenpulli.

Schnitt.

Eins weiter links lässt sich ein Typ nieder, der gerade aus dem Filmkunst 66 gegenüber kam. Als er sein großes Pils bekommt, bestellt er ein zweites, bevor er den ersten Schluck genommen hat. Respekt.

Schnitt.

Giovanni – so habe ich den italienischen Barmann inzwischen in meinem grauburgunderbunten Kopf getauft – schaut wieder traurig auf seine verlorene Pädagogin. Im Radio singen Michael Jackson und Paul McCartney „Yes she´s mine, mine, mine…“
Die Rigatoni Bleibtreu sind aus und werden von der Tafel gewischt.

Schnitt.

Zeit aufzubrechen. Habe langsam Angst, in eine Zeitschleife zu geraten. Gleich hält Marty mit seinem qualmenden Delorian vor der Tür und sagt mit aufgerissenen Augen „Steig ein, wir müssen Doc retten! Vertrau mir, ich erklär Dir alles später!“
Als ich aufstehe sehe ich noch, wie am Nebentisch zwei sehr große Teller serviert werden.
Als ich hinaustrete spüre ich die kalte Novemberluft um meinen Kopf wirbeln.
Ich denke träge „This is no Hats“.
Bevor die Tür hinter mir zufällt höre ich die ersten Töne von „We can dance“.
Und die Nacht ist jung und frisch.

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