Manchmal ist es gar nicht die Autokorrektur, manchmal vertippe ich mich auch von ganz alleine. Ein Wort, das dabei seit Jahren immer wiederkehrt, ist Heuligabend. Ein Freud’scher Verschreiber, sozusagen, der die Geschichte der nunmehr fünfzig Weihnachtsfeste meines Lebens eigentlich ganz gut zusammenfasst. Anders gesagt: Es war nicht alles Lametta.
Meine Weihnachtserinnerungen – zumindest die meines Erwachsenenlebens – sind bestimmt von Hetze, Druck, Pflichtterminen mit einer einander zutiefst verachtenden Verwandtschaft, Streit, Kommerz – und meinem dennoch nicht totzukriegenden Wunsch, zu Weihnachten diese „Besinnlichkeit“ herzustellen, von der immer alle sprechen. Vergebens.
In den letzten Jahren nun geht eine Veränderung vonstatten. Die Altvorderen geben nach und nach das Zepter für die Familienfeste aus der Hand (einige auch den Löffel), während aus der nachfolgenden Generation keiner übernehmen möchte. Sowohl an Heiligabend als auch an den Feiertagen ist der Kalender in diesem Jahr deshalb verblüffend leer. Eine völlig neue Erfahrung.
Ob wir damit klarkommen?
Ich will ehrlich sein. Wir kommen sowas von klar.
Nach all den Jahren der Hin- und Herrennerei zwischen den diversen Eltern, Onkeln und Tanten, die man nicht in einem Zimmer versammeln konnte, ohne dass sie einander in kürzester Zeit an die Gurgel gingen (wir hatten es zweimal probiert und waren eindrucksvoll gescheitert), sind wir offiziell die Generation, der man kein schöneres Geschenk machen kann als ein Weihnachtsfest ohne Verpflichtungen.
Heiligabend ist entspannt wie nie.
Wir sind zu viert zu Hause, das gab es so noch nicht. Nur der Mann, die Jungs und ich.
Schon im Vorfeld hatten wir besprochen, wer welche Wünsche hat – für die Jungs gibt es deshalb Geschenke und Cocktails, für mich einen Spaziergang und Kerzen, und für den Mann? Der Mann braucht nichts. Er ist wunschlos glücklich, hat er gesagt, und wir kennen einander nun lange genug, um uns sowas dann auch einfach mal zu glauben.
Einen Baum gibt es in diesem Jahr auch nicht, ich habe nur ein paar Tannenzweige besorgt. Das Weihnachtsoratorium höre ich beim Kochen, zum Essen gibt es dann Lamm, Rosenkohl mit Honig, Sekt und Reggae.
Der Große bietet alle Schätze aus seinem Gewürzadventskalender auf, den er von seiner Freundin bekommen hat, unser Favorit heißt Maria und Sausef. Die Gespräche perlen munter über den reich gedeckten Tisch, der Herrnruther Stern im Fenster leuchtet stolz und im Licht der Straßenlaterne sieht man das Treiben dicker matschiger Schneeflocken. Es ist Weihnachten und es schneit zwar nicht, aber es schnegnet: Das Kind in mir ist happy. Es wird nicht zum Rodeln reichen, aber zumindest haben wir nicht wieder diese frühlingshaften Temperaturen mit unangebrachtem Vogelgezwitscher wie sonst so oft an den Feiertagen. Es ist sogar so kalt, dass wir das ganze alkoholfreie Bier vom Balkon geholt haben, damit die Flaschen nicht platzen. Was sich als günstig erwies, weil wir sonst gar nicht genug Platz für den ganzen Alkohol gehabt hätten, den wir gekauft haben.
Erst während des Essens bemerke ich, dass ich vergessen habe, mich umzuziehen, ungeschminkt und in Jogginghose sitze ich an der Festtafel. Die Art von Schreck erinnert mich an diese Träume, die man manchmal hat, in denen man in der Schule rumläuft und plötzlich merkt das man nackt ist. Überlege kurz, das Essen zu unterbrechen, dann schaue ich meine unglaublich entspannte Familie an und gieße mir lieber noch ein Glas Wein ein. So what.
Nach dem Essen gibt es die Cocktails. Cosmo, Zombie, Margarita. Die drei Unheiligen aus dem Land, in dem die Kopfschmerzen von Morgen gemacht werden. Die Fugees singen Killing me softly, Sohn I. und ich singen lautstark mit.
„Höret zu und tuet Buße“ murmelt der Zweitgeborene augenrollend, lässt uns aber gewähren, nimmt sich einen Notizblock und fängt an zu zeichnen. Das macht er in letzter Zeit öfter. Er zeichnet… – Tangenten. Mathe. Das hat für ihn was Beruhigendes, sagt er, er liebt diese tiefe Logik, die dahinter steckt. Und die will er auch uns zu gerne nahebringen, immer wieder, das ist nicht nur irritierend, es hat auch ein bisschen was Missionarisches. Früher haben die Zeugen Jehovas geklingelt und wollten mir Gott verkaufen – jetzt tippt mir mein Sohn auf die Schulter und will mich zu Mathe bekehren. „Guten Tag, ich will mit Dir über Tangenten sprechen, ich erklär´ Dir erstmal das Grundprinzip der einfachen Ableitungen“ sagt er dann mit leuchtenden Augen. Und wenn ich – wie heute – erkläre, dass ich dazu gerade so gar keine Lust habe, sagt er Dinge wie „Komm schon, Wissen ist ein Geschenk. Und es ist Weihnachten!“ und dann fällt mir gar nichts mehr ein, weil ich ihn für so viel Schlagfertigkeit eigentlich nur küssen möchte, aber langweilig sind die Tangenten immernoch. Wie froh ich dann bin, wenn der Erstgeborene dann ergeben sagt: „Na komm, erklär´s mir, ich kann mich gar nicht mehr erinnern“, und auch ihn möchte ich nur küssen für so viel Bruderliebe, mein Mutterherz jubiliert, es ist wie… wie Weihnachten?
In diesen Moment hinein kommt der Mann vom Rauchen zurück, leise schließt er die Balkontür hinter sich. Ganz verfroren sieht er aus – wahrscheinlich hat er gewartet, bis er sicher war, dass wir nicht mehr singen – und so stehen wir nun eine Weile versonnen nebeneinander wie die Ochsen vor der Krippe und betrachten unsere fast erwachsenen Kinder wie sie im Kerzenschein sitzen – und Mathe machen. Es ist herrlich absurd.
Ich schreibe meiner Freundin Mara eine kurze WhatsApp-Nachricht, denn sie hat auch so einen mathematikbegeisterten Sohn. „Es ist Heiligabend“ schreibe ich, „und er sitzt da und zeichnet Tangenten“.
Mara ist auch gerade online und schreibt direkt zurück:
„Es ist Heiligabend.“ Schreibt sie. „Und Julius hat gerade einen Mathematik-Kalender geschenkt bekommen mit dem Titel Nachts teile ich heimlich durch Null…“ Oh, ich habe so genau den Gesichtsausdruck vor Augen, den sie dabei hat, diesen Gesichtsausdruck einer Mutter zwischen Stolz und Verstörung, und einmal mehr fühle ich mich ihr sehr verbunden.
Der Abend plätschert fröhlich dahin. Wir reden über das vergangene Jahr, über Dinge, die schön waren, trotz Corona. Über Musik. Über Reisen. Über Dinge die Hoffnung geben. „Karl Lauterbach“ sagt der eine, „deine Mudder“ der andere, und ich höre einfach nur zu und könnte sie unentwegt in den Arm nehmen.
Trotz vorgerückter Stunde setzen die Jungs schließlich durch, dass wir vor dem Schlafengehen noch eine Runde Mariokart zocken, dabei plündern wir eine Geschenketüte mit Niederegger-Marzipan. Es gibt viele trendige Sorten wie Cheesecake und Caramel Brownie, der Jüngere entscheidet sich für: Nuss. „Klassisch“ sagt er. „Was Marzipan angeht, bin ich die CDU“, und ich denke, dass er für sein junges Leben irgendwie schon ganz schön viel begriffen hat.
Gegen 23 Uhr beschweren sich die Nachbarn, dass die Musik zu laut ist, außerdem würde man unser Lachen durchs ganze Treppenhaus hören. Ihre Verwandten seien zu Besuch, schreiben sie in einer Nachricht, schließlich sei Heuligabend und…
Weiter komme ich gar nicht. Tatsache! geht es mir plötzlich auf. Heute ist Heuligabend! Und es tut gar nicht weh.
Mache die Musik ein bisschen leiser.
Das Lachen nicht.