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Berlin – Winterthur

Vor einiger Zeit habe ich mal ein Buch geschenkt bekommen, es heißt „Kunst aufräumen“. Es steht seither recht prominent in meinem Bücherregal, ich nehme es öfter mal zur Hand, denn es bringt mich immer wieder zum Lächeln. Das Buch enthält eine Vielzahl von Bildern, berühmte Kunstwerke, derer sich ein Schweizer Künstler namens Urs Wehrli angenommen hat. Er räumt die Bilder auf, nimmt sie einfach auseinander und sortiert die einzelnen Elemente z.B. bei einem Kandinsky oder Picasso, nach Form und Farbe. Fein säuberlich. Ein Marie Kondo der schönen Künste, quasi, es hat etwas herrlich Absurdes und verstörend Befriedigendes. 

An dieses Buch jedenfalls muss ich denken als ich am Bahnhof Winterthur aus dem Zug steige. Alles und jeder ist plötzlich sehr aufgeräumt und schick, ich schaue mir die Umgebung an, doch viel schlimmer: die Umgebung schaut zurück. 
Eben noch stand ich für Berliner Verhältnisse ausnehmend gut gekleidet, geschminkt, geduscht, geboostert und gebürstet am Hauptbahnhof – und jetzt steige ich aus und fühle mich von dem Moment, da mein Fuß den Bahnsteig touchiert, schäbig. Die Einheimischen mustern mich. Nein, das trifft es nicht, sagen wir: sie streifen ihre Blicke an mir ab. Und sofort sehe ich mich durch ihre Augen. 
Ich muss an diese Bilderrätsel denken, die es früher manchmal in Zeitschriften gab, Finde die sieben Abweichungen zwischen den Bildern, und es ist nicht schwer. Es fühlt sich an als hätte jemand den kaputten Reißverschluss an meiner alten Daunenjacke und die etwas ausgefransten Hosenbeine meiner Lieblings-Jeans mit Rotstift eingekreist, meine ungeputzten Schuhe können mit dem blitzeblanken Boden einfach nicht mithalten, einen Rucksack trägt hier kein Mensch und auch mein Gesicht ist plötzlich ein Problem. Kein Concealer, keine Foundation, was hab ich mir nur gedacht? Und dann noch die ungezupften Augenbrauen, ich komm mir vor wie Theo Waigel, Theo Waigel mit Lippenstift immerhin. Was es nicht zwangsläufig besser macht. 
Ich seufze, dann schultere ich meinen Rucksack, schlurfend und mit hängenden Schultern mache ich mich auf den Weg. Ein Obdachloser vom Gleis gegenüber hebt die Hand zum Gruße.

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Snälltåget (In groben Zügen)

„Meine Damen und Herren, an Gleis 5 steht für Sie bereit…“
Es ist so weit, ich bin ein bißchen aufgeregt. 
Über die neue Bahnstrecke wurde in den letzten Wochen viel berichtet, auch im Radio und in der Abendschau wurde es feierlich verkündet: Der neue Snälltåget bietet seit diesem Sommer eine Direktverbindung von Berlin nach Stockholm an. 
Es gibt auch eine Nachtverbindung, bei der man bequem schlafen kann, und wenn man aufwacht, während das Frühstück serviert wird, ist man schon in Schweden und fährt entspannt an grünen Wiesen und roten Häusern vorbei, bevor man am Wunschort aus dem Zug steigt und maximal erholt in den Urlaub startet. Für genau diese Nachtverbindung habe ich mich entschieden. 14 Stunden sind es von Berlin-Gesundbrunnen nach Alvesta in Småland. 

Es ist 19 Uhr, gleich geht es los. Als ich in den Waggon klettere, bin ich erstmal erstaunt. Eine alte Gittertreppe führt in ein altmodisches Großraumabteil. Also, „Groß“, naja. Die Sitze sind mit rotem Polyester und hellbraunem Kunstleder bezogen, der Boden mit braunem Teppich ausgelegt, das Licht ist schummerig und flackert ein wenig. Na dann, denke ich, auf ins Abenteuer, und suche meine Platznummer. 
91, aha, na gut. 
Das ältere schwedische Ehepaar, dem ich gerade beim Einsteigen mit den schweren Koffern geholfen hatte, guckt mürrisch, als ich meine Reisetasche auf die Plexiglasablage hieve und direkt Ihnen gegenüber im Viererabteil zu sitzen komme. 
„Welchen Sitz haben Sie?“ fragt die Frau mit heruntergezogenen Mundwinkeln und vorgeschobenem Unterkiefer. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich, den erkenne ich sogar durch die Maske. Ich hab ihn hundertmal gesehen – an meiner Schwiegermutter. Er deutet auf latente Übellaunigkeit und akuten Hunger hin, ich weiß Bescheid. Da heißt es jetzt: besonnen reagieren. Oder direkt was zu Essen reintun. Ertappe mich dabei, wie ich in Gedanken meinen Proviant durchgehe, und die Vorstellung, der fremden Frau auf die Frage „Welchen Sitz haben Sie?“ wortlos eine Käsestulle in die Hand zu drücken, gefällt mir kurz, dann beschränke ich mich doch auf die sachliche Antwort: „91“ und deute achselzuckend auf die Sitznummer über mir. 

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