Snälltåget (In groben Zügen)

„Meine Damen und Herren, an Gleis 5 steht für Sie bereit…“
Es ist so weit, ich bin ein bißchen aufgeregt. 
Über die neue Bahnstrecke wurde in den letzten Wochen viel berichtet, auch im Radio und in der Abendschau wurde es feierlich verkündet: Der neue Snälltåget bietet seit diesem Sommer eine Direktverbindung von Berlin nach Stockholm an. 
Es gibt auch eine Nachtverbindung, bei der man bequem schlafen kann, und wenn man aufwacht, während das Frühstück serviert wird, ist man schon in Schweden und fährt entspannt an grünen Wiesen und roten Häusern vorbei, bevor man am Wunschort aus dem Zug steigt und maximal erholt in den Urlaub startet. Für genau diese Nachtverbindung habe ich mich entschieden. 14 Stunden sind es von Berlin-Gesundbrunnen nach Alvesta in Småland. 

Es ist 19 Uhr, gleich geht es los. Als ich in den Waggon klettere, bin ich erstmal erstaunt. Eine alte Gittertreppe führt in ein altmodisches Großraumabteil. Also, „Groß“, naja. Die Sitze sind mit rotem Polyester und hellbraunem Kunstleder bezogen, der Boden mit braunem Teppich ausgelegt, das Licht ist schummerig und flackert ein wenig. Na dann, denke ich, auf ins Abenteuer, und suche meine Platznummer. 
91, aha, na gut. 
Das ältere schwedische Ehepaar, dem ich gerade beim Einsteigen mit den schweren Koffern geholfen hatte, guckt mürrisch, als ich meine Reisetasche auf die Plexiglasablage hieve und direkt Ihnen gegenüber im Viererabteil zu sitzen komme. 
„Welchen Sitz haben Sie?“ fragt die Frau mit heruntergezogenen Mundwinkeln und vorgeschobenem Unterkiefer. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich, den erkenne ich sogar durch die Maske. Ich hab ihn hundertmal gesehen – an meiner Schwiegermutter. Er deutet auf latente Übellaunigkeit und akuten Hunger hin, ich weiß Bescheid. Da heißt es jetzt: besonnen reagieren. Oder direkt was zu Essen reintun. Ertappe mich dabei, wie ich in Gedanken meinen Proviant durchgehe, und die Vorstellung, der fremden Frau auf die Frage „Welchen Sitz haben Sie?“ wortlos eine Käsestulle in die Hand zu drücken, gefällt mir kurz, dann beschränke ich mich doch auf die sachliche Antwort: „91“ und deute achselzuckend auf die Sitznummer über mir. 

„Aber das ist nicht richtig“ sagt nun die Frau, mit diesem schönen schwedischen Akzent, der immer so ein bißchen nach Midsommar und hellem Leben klingt. Wäre da nur nicht dieses Gesicht. 
„Das ist nicht richtig“, sagt sie also, „Ich kenne sie gar nicht!“ 
Da hat sie mal n Punkt, denke ich verblüfft. 
„Ihn kenne ich“ sagt sie und zeigt auf ihren Mann, der darauf zusammenzuckt und sich sehr gerade aufsetzt. „Aber Sie kenne ich nicht“ wiederholt sie empört und zeigt in einer Art und Weise mit dem nackten Finger auf mich, die man aus Vampirfilmen kennt, wenn Kruzifixe in die Höhe gehalten werden. Weiche von mir. 
Ich verstehe ja ihr Unbehagen, wir haben Corona, nur die Hälfte des Zuges darf überhaupt belegt werden, und dann sitzt man sich hier so gegenüber. Aber die Art und Weise verblüfft mich doch sehr. Außerdem kriege ich Hape Kerkeling in der Rolle von Königin Beatrix nicht aus dem Kopf, „Das ist die Falsche“. 

„Wir können das bestimmt klären, wenn die Zugbegleiterin kommt“, sage ich. „Ich habe nämlich einen Liegesitz reserviert, da muss eh irgendwas schiefgelaufen sein.“ Sie schmollt immernoch ein wenig, aber nickt. 
„Und wenn der Zug so leer bleibt“, sage ich noch fröhlich „dann ist das ja alles eh kein Problem“. In dem Moment steigen zwei Familien mit insgesamt fünf kleinen Kindern ein. Innerlich recke ich ein Kruzifix in die Höhe. Dann seufze ich ergeben. Und der Zug setzt sich in Bewegung.

Ganz schön warm ist es hier drin, die FFP2 Masken tun ein Übriges. Auch die anderen Fahrgäste fächeln sich bereits Luft mit ihren Fahrkarten und Kreuzworträtselheften zu. Die Zugbegleiterin taucht auf und informiert uns, dass die Klimaanlage defekt sei, man arbeite dran, im gleichen Atemzug weist sie uns auf die Maskenpflicht hin, dann fällt ihr auf, dass sie ihre vergessen hat. Schwupp, ist sie wieder weg. 
Gott sei Dank ist der Zug so alt, man kann die Fenster noch öffnen. 
Wir passieren die Stadtgrenze.
Der kleine Jonas fragt, wie weit es noch ist. 

Kurz vor acht werden die Fahrkarten kontrolliert. Ich frage die Zugbegleiterin wegen meiner Sitzreservierung. „Ich habe einen Liegesitz gebucht“ sage ich und zeige ihr meine Reservierungsbestätigung, die das belegt. Den Aufpreis von 50€ hatte ich mir bei einer Fahrt von 15 Stunden gegönnt.
„Das ist richtig“ sagt sie. „Liegesitz bedeutet einfach nur, dass sie zwei nebeneinanderliegende Sitzplätze haben.“ Ich bin not amused.  
Ich deute auf die etwa 40 cm breiten Kunstledersitze. „Darauf soll ich liegen?“ frage ich ungläubig. Ich bin rund 1,80m groß, was mache ich denn mit dem  Meter, der dann noch übrig ist? will ich wissen. Sie zuckt die Schultern. 
„Haben Sie nicht eh damit geworben, dass in der Corona-Zeit nur jeder zweite Platz belegt wird? Warum habe ich denn dann den Zuschlag gezahlt“ insistiere ich. 
„Ja“, sagt Sie „Wir belegen nur jeden 2. Platz. Aber Sie haben einen Anspruch darauf!“ Mit dieser verblüffenden Antwort lässt sie mich zurück.
„Die Toilette läuft übrigens über“ rufe ich ihr noch hinterher. „Ich weiß“ ruft sie zurück ohne sich umzudrehen, dann ist sie wieder verschwunden. 
Der kleine Jonas muss mal. 

Nach einer Stunde Fahrt kommt der Zug auf freier Strecke zum Stehen. Lange. Durchsagen gibt es keine, die Lautsprecher sind auch kaputt. Die Abendsonne brezelt durch die Scheiben, durch die geöffneten Fenster kommen nun Mücken und Fliegen herein. 
Der kleine Jonas ist noch gar nicht müde.

Nach einer weiteren Stunde steht der Zug immernoch auf freier Strecke und lässt diverse ICEs passieren.  Jonas´ Mutter singt ein Schlaflied, das schwedische Ehepaar ist sofort eingeschlafen, Jonas heult und heult. „Schluss jetzt, Jonas“ ruft seine Mutter irgendwann entnervt „Willst Du jetzt mit mir nach Schweden fahren oder nicht?!“ 
„Aber wir fahren doch gar nicht“ schluchzt Jonas und zeigt nach draußen, auf die unbewegte Landschaft. Damit spricht er uns allen aus der Seele. 

Nach 4 ½ Stunden erreichen wir Hamburg. Planmäßig, wie ich feststelle. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal 4 ½ Stunden nach Hamburg gebraucht habe. Warum heißt dieses Ding eigentlich Snälltåget?! 
Einer Eingebung folgend frage ich den Google-Übersetzer. Snäll heißt gar nicht schnell. Snäll heißt freundlich. 
Der kleine Jonas kichert heiser. Moment, nee, das war wohl ich. 

Kurz nach Hamburg döse ich doch ein bißchen weg. Werde wach, als ich im Traum Hägar dem Schrecklichen begegne, der mir mit erklärt, dass es eigentlich Hägar, der Freundliche heißt, und kann nicht wieder einschlafen. Die nächtliche Landschaft zieht leise vorbei. 
Der kleine Jonas schnarcht wie sieben besoffene Russen. 

Erst gegen 2 Uhr nicke ich wieder ein, was sich nicht wirklich lohnt. Diesmal werde ich nicht von Hägar geweckt, sondern von einer Horde dänischer Grenzbeamter, die an die Metallgriffe klopfen, um uns zu wecken, und mit grellen Taschenlampen unsere müden Gesichter und Ausweise zu kontrollieren. Fühle mich an alte Transitzeiten erinnert. Dann geht es weiter durch die Nacht. 
Ab jetzt dürfen wir beim Schlafen die Masken absetzen. Wir sind in Dänemark, es gelten die dänischen Vorschriften. Es ist stickig, ich merke erst jetzt, wie schlimm die Toilette riecht. Frage mich langsam, ob der Teppichboden schon immer braun war. Setze die Maske freiwillig wieder auf. 

Ich weiß nicht genau, ob ich ohnmächtig geworden oder nur eingeschlafen bin, jedenfalls werde ich diesmal von den schwedischen Grenzern geweckt. Erneute Kontrolle. Das demonstrative Aufgebot an Schusswaffen an den Gürteln erinnert so gar nicht an Midsommar und helles Leben. Ein Suchhund wird durch das Abteil getrieben. 
Der kleine Jonas will sein Frühstück. Die Nacht ist vorbei.

Es folgt ein unplanmäßiger Zugwechsel. „Nein, nein, es ist kein anderer Zug“ sagt die Zugbegleiterin scheinheilig, „die Zugnummer ist die selbe!“ Es sei ja schließlich eine Direktverbindung. 
Obendrauf bekommen wir einen anderthalbstündigen Aufenthalt in Malmø geschenkt, dann geht es weiter. 
Die verzweifelte Suche nach meinem reservierten Frühstück, das ich 3 Wagen weiter in einer Tüte vorfinde, nimmt einige Zeit in Anspruch. Die mürrische Dame guckt neidisch herüber („Jetzt geht die mein Essen essen!“). Das aufgeweichte Brötchen ist ungenießbar, aber auf den Kaffee freue ich mich unbändig. Als ich gerade genüßlich den Becher ansetze, setzt sehr geräuschvoll die Absaugung der Toilette ein… 

Was soll ich sagen. Wer sicher gehen möchte, absolut urlaubsreif an seinem Ziel anzukommen, dem empfehle ich die Reise mit dem Snälltåget. Als wir gegen Mittag Alvesta erreichen, überwiegt meine Erleichterung, angekommen zu sein. Benommen steige ich aus dem Zug.  Der kleine Jonas winkt, ich winke zurück.