Freitagabend. Nach langer Zeit habe ich mal wieder einen Auftritt! Aber…
Ich fang mal anders an.
Heute Abend bin ich mit meiner alten Freundin Tessa verabredet. Ich freue mich sehr, Tessa und ich kennen uns schon seit unserem 10. Lebensjahr und haben uns jetzt eine ganze Weile nicht gesehen.
Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber je älter ich werde, desto öfter verschätze ich mich mit Zeiträumen. Bestimmt kennt Ihr diese Frage, über die man dann gemeinsam nachgrübelt, wenn man sich wiedertrifft: „Mensch, wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen?“ Ich liege bei der Antwort verlässlich daneben, weil ich eigentlich immer denke „Na, gerade neulich“ – und dann ist dieses neulich bei näherem Überlegen, zack, doch schon 5 Monate her. Oder Jahre. Oder was weiß ich.
Sebastian sagt ja: „Du merkst, dass Du 50 bist, wenn alles, worüber Du redest, mitmal zwanzig Jahre her ist.“ Aber damit mag ich mich noch nicht so richtig abfinden.
Es gilt also, Anhaltspunkte zu finden.
Man erinnert sich vielleicht, dass es bei der Hochzeit von Tommy und Jana gewesen sein muss, gerade neulich halt. Und dann fällt einem auf, dass die beiden zwar immernoch verheiratet sind, aber nicht mehr miteinander, und es deshalb vielleicht doch die Art von neulich ist, die schon etwas länger zurückliegt.
In letzter Zeit gibt es ja glücklicherweise zusätzliche Erinnerungsstützen beim Einordnen.
Dann erinnert man sich vielleicht, dass man sich bei dieser Party von Tanja zuletzt gesehen hat, weißte noch, oder in der Kneipe mit Eric, genau, und waren wir da nicht zusammen bei Pattis Auftritt? Na, und dann weiß man schon mal, dass es definitiv über ein Jahr ist. Weil es noch Partys gab. Und Kneipen. Und Bühnen.
Gerade neulich.
Lange her.
Heute früh las ich irgendwo den Satz: Da ist noch Tunnel am Ende des Lichts. Und ich finde, das trifft das derzeitige Lebensgefühl ganz gut. Man hangelt sich ständig von Lichtblick zu Lichtblick und versucht, nicht zu verzagen. Ich jedenfalls bemühe mich redlich, halte den Blick stur auf das Ende des Tunnels gerichtet und nehme die tägliche Herausforderung an, Positives an dieser seltsamen Zeit zu finden. Geschmeidig zu bleiben.
Die Lektion heute: Wer keine Bühne hat, der macht sich eine.
Auf dem Weg zu Tessa hole ich im Supermarkt noch schnell eine Flasche Rotwein raus. Ich habe keine Tasche dabei und eine Papiertüte zu kaufen finde ich übertrieben, also verlasse ich mit der Flasche in der Hand den Laden. Als ich sehe, dass auf der anderen Seite gerade der M48 hält, renne ich über die Straße und springe noch schnell hinein, während die Türen schließen. Ich will mich gerade setzen, da zucke ich zusammen, denn in ohrenbetäubender Lautstärke tönt die gestrenge Stimme der Busfahrerin durch das Mikrophon. „ICK HOFFE JANZ DRINGEND, DASS DIE FLASCHE ZU IST, JUNGE FRAU!!“
Langsam drehe ich mich um und stelle Blickkontakt über ihren Rückspiegel her. Ein vernichtender Blick hinter getönten Brillengläsern trifft mich. Ich recke die Flasche empor, halte sie zum Beweis, dass sie zu ist, schräg in die Höhe und rufe laut vernehmlich „Ja!“
Von außen sieht es vielleicht ein bißchen aus als würde ich ihr zuprosten.
Während der Bus sich in Bewegung setzt, erhasche ich einen Blick aus der Menge der Wartenden an der Bushaltestelle. Es ist unser Hausmeister. Mit theatralischer Haltung und immernoch hocherhobener Weinflasche fahre ich an ihm vorbei in den Sonnenuntergang. Warum singt eigentlich niemand? Wo ist Céline Dion wenn man sie braucht?!
Immerhin hat sie junge Frau gesagt, denke ich, als der erste Schreck verflogen ist. Als ich aussteige, verbeuge ich mich noch einmal, dann gehe ich über die Ampel Richtung Tessa.
Das Gute bei Freundinnen, die man schon sehr lange kennt, ist, dass es leichter auszuhalten ist, sie länger nicht zu sehen. Das klingt vielleicht widersprüchlich – aber ich empfinde das so, über die Jahre ist da so eine Art Gewissheit gereift, ein Grundgefühl von Präsenz. Ich weiß, sie sind irgendwo da draußen. Und egal ob wir uns nun in 5 Tagen oder 5 Monaten wiedersehen – wir werden uns in jedem Fall freuen, uns nicht mit Oberflächlichkeiten aufhalten und nahtlos anknüpfen.
In unserem Fall tippe ich, dass wir uns etwa ein Jahr nicht gesehen haben. In dieser Zeit ist Tessa umgezogen, sie hatte mir die Adresse ihrer neuen Wohnung per SMS geschickt. Nun stehe ich im Flur, schaue mich über den Maskenrand hinweg um und wundere mich, wie eingerichtet schon alles ist. „Naja“, meint sie, dreieinhalb Jahre würde sie ja nun schon hier wohnen. Soviel zu meinem Zeitgefühl. Immerhin sind die Katzen noch die selben.
Doch bevor wir uns zum Plaudern niederlassen gehen wir erst einmal durch auf den Balkon. Sie reicht mir ein Päckchen. „Das gute Zeug“ raunt sie. Ich schließe kurz die Augen und lasse diesen Satz nachklingen, den ich wirklich lange nicht gehört habe. Wohlige Erinnerungen an alte Zeiten ploppen auf.
„Die gehen auch vorne“ fügt sie dann leider hinzu. Das war der Deal: Ich besorge den Rotwein, Tessa die Schnelltests.
Kurz darauf bohren wir uns synchron mit Wattestäbchen in der Nase. Vorne reicht. „Das gute Zeug“ bedeutet in dem Fall, dass ein Abstrich aus dem vorderen Nasenbereich ausreicht, wir müssen die Stäbchen nicht bis zum Hirnstamm schieben. Was wir halt heute so meinen, wenn wir „das gute Zeug“ sagen. „Da gönn mir mal was.“
Wir beobachten gebannt, wie die Kontrollstreifen in feinstem Rot erstrahlen und feiern, dass kein weiterer Streifen erscheint. Auch wie früher, denke ich.
Ein paar warme, wortreiche, schöne Stunden später breche ich auf.
Kurz überlegen wir, ob Tessa mich noch zur Bushaltestelle begleitet, aber dann fällt uns die Sperrstunde ein. „Hätten wir vor 20 Jahren auch nicht geglaubt, dass wir in Berlin nochmal Sperrstunde kriegen“ sagt Tessa. Wir sind uns unsicher, ob wir nach 21h noch zusammen draußen sein dürften. „Ich glaube, wir dürften nur mit triftigem Grund“, sage ich.
Vor meinem inneren Auge entstehen Bilder, ich sehe uns in die Arme eines Ordnungsbeamten torkeln. „Wir haben hier einen sehr triftigen Grund, Herr Wachtmeister, wollen Sie auch einen Schluck?“
Aber diesen Auftritt lassen wir jetzt mal getrost sausen und ich mache mich allein auf den Weg, sicher ist sicher. Diese tröstliche Bühne des Lebens ist morgen sicher auch noch da.