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Rummel!

Wenn der Frühling fast vorbei ist und der Sommer noch nicht angefangen hat. 
Wenn die Bäume ihr leuchtendstes Grün feiern und die Blüten des Wilden Jasmin am Wegesrand die Sinne betäuben,
wenn die Natur erwacht ist, aber die Blattläuse noch nicht, und eine vage Sehnsucht nach Waldmeister und Berliner Weiße sich an die Oberfläche der gebeutelten Stadtseele kämpft – dann ist wieder so weit: Es ist Ende Mai. Und die Steglitzer Festwoche beginnt.

Die Steglitzer Festwoche, „der Rummel“, ist eine Südwestberliner Institution und begleitet mich ein Leben lang.
Im Vorfeld lese ich die Ankündigung im Kiezblatt, von 70. Geburtstag ist die Rede, von Riesenrad, Fahrgeschäften und einem „vielfältigem kulinarischen Angebot“. Ich zögere nicht lange und verabrede mich mit meinem alten Freund Andi, den ich schon seit der Grundschule kenne. Gemeinsam haben wir schon manche Runde in der Geisterbahn gedreht, und egal ob man das jetzt wörtlich oder als Metapher nimmt – es stimmt. 

Schon beim Geländer der Brücke, die über den Teltowkanal zum Eingang führt, geht es los mit den Erinnerungen.
„Ich hatte ihr eine Rose geschossen“, sagt Andi mit glasigem Blick. „Und hier, bei den Fahrrädern – hat sie mich abserviert.“ 

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Wahltag

Sonntagmittag, kurz nach 12, wir machen uns auf den Weg. 
Der Mann ist gerade nicht in Berlin und hat schon alles per Briefwahl erledigt, doch ich wollte mir den feierlichen Gang zum Wahllokal mit unserem 17jährigen Sohn nicht nehmen lassen, der in diesem Jahr zum ersten Mal wählen darf, wenn auch nur die Bezirksverordnetenversammlung. 
Der Himmel ist blau, die Sonne scheint auf die Steglitzer Nebenstraßen als wüsste sie nichts von der Tragweite des heutigen Tages. Erste Kastanien liegen auf den Gehwegen, wir kicken sie mit den Schuhspitzen und lassen sie über die Gehsteigplatten springen. Ein Spektakel, für mich eigentlich das Schönste am Herbst. Kastanien über Gehsteigplatten springen lassen. Das entspannt ungemein, probiert es mal aus. Aber ich schweife ab. 

Wir laufen also Richtung Wahllokal, diesmal ist es die Evangelische Grundschule in der Beymestraße. Los geht´s. 
Beschwingten Schrittes und gehobener Stimmung biegen wir in die Straße, während wie schon mal Perso, Maske und Wahlbenachrichtung aus den Taschen zuppeln. Wir hoffen, wir sind schnell wieder draußen, denn wir haben das Frühstück heute ausfallen lassen, wollen lieber früher Mittag essen und so langsam meldet sich der Hunger… – in dem Moment sehen wir Warteschlange. Je näher wir herankommen, desto mehr wird uns das Ausmaß bewusst: vom Eingang der Schule über die 30 Meter lange Auffahrt bis zur Straße und dann um die Ecke, den Gehweg entlang stehen Menschen. Schilder auf dem Boden sagen: „Hier nur Schlange für Wahlkreis 211. 210 rechts im Hof.“ Rechts im Hof sehe ich aus der Ferne eine etwa dreiköpfige Schlange. Hoffnung keimt auf, wir schauen auf unsern Wisch: Verdammt. 211. Wir seufzen tief, dann reihen wir uns ein. 
Wir zählen die Köpfe in der Schlange vor uns durch. Wir kommen auf 53, aber es sind definitiv noch mehr, denn die Köpfe der auf dem Rollator sitzenden wartenden Seniorinnen sieht man nicht. Mein Sohn betrachtet die Szene eine Weile und schaut mich ungläubig an. „Echt jetzt? sagt er. „Soll ich mal Bescheid sagen, dass die noch ne Kasse aufmachen sollen?!“ und ich liebe ihn für diese Idee. 
Die Umstehenden auch. 

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Gerade neulich

Freitagabend. Nach langer Zeit habe ich mal wieder einen Auftritt! Aber…

Ich fang mal anders an.
Heute Abend bin ich mit meiner alten Freundin Tessa verabredet. Ich freue mich sehr, Tessa und ich kennen uns schon seit unserem 10. Lebensjahr und haben uns jetzt eine ganze Weile nicht gesehen.

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber je älter ich werde, desto öfter verschätze ich mich mit Zeiträumen. Bestimmt kennt Ihr diese Frage, über die man dann gemeinsam nachgrübelt, wenn man sich wiedertrifft: „Mensch, wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen?“ Ich liege bei der Antwort verlässlich daneben, weil ich eigentlich immer denke „Na, gerade neulich“ – und dann ist dieses neulich bei näherem Überlegen, zack, doch schon 5 Monate her. Oder Jahre. Oder was weiß ich.
Sebastian sagt ja: „Du merkst, dass Du 50 bist, wenn alles, worüber Du redest, mitmal zwanzig Jahre her ist.“ Aber damit mag ich mich noch nicht so richtig abfinden.
Es gilt also, Anhaltspunkte zu finden.
Man erinnert sich vielleicht, dass es bei der Hochzeit von Tommy und Jana gewesen sein muss, gerade neulich halt. Und dann fällt einem auf, dass die beiden zwar immernoch verheiratet sind, aber nicht mehr miteinander, und es deshalb vielleicht doch die Art von neulich ist, die schon etwas länger zurückliegt.
In letzter Zeit gibt es ja glücklicherweise zusätzliche Erinnerungsstützen beim Einordnen.
Dann erinnert man sich vielleicht, dass man sich bei dieser Party von Tanja zuletzt gesehen hat, weißte noch, oder in der Kneipe mit Eric, genau, und waren wir da nicht zusammen bei Pattis Auftritt? Na, und dann weiß man schon mal, dass es definitiv über ein Jahr ist. Weil es noch Partys gab. Und Kneipen. Und Bühnen.
Gerade neulich.
Lange her.

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Junge, Junge

Ich bin so müde, so unglaublich müde. Manchmal glaube ich, ich werde nie wieder wach sein. 
So wenig geschlafen habe ich gar nicht. Manchmal denke ich, es liegt an meiner Art, durch die Welt zu laufen und die Dinge wahrzunehmen. 

Hm, wie kann ich das erklären?
Zusätzlich zu den Dingen, die ich tatsächlich wahrnehme, laufen in meinem Kopf immer noch mehrere Parallelebenen ab. Gerade eben beim Bäcker, zum Beispiel, ist schon wieder passiert: 
Die Namen der Brötchen haben mich aus der Fassung gebracht. 

Dann höre ich mir zu, wie ich Sätze sage wie 
„Ich hätte gerne zwei Junggesellen bitte“ und dann verwirre ich mich selber mit den Bildern und Szenarien, die sofort ungefragt vor meinem inneren Auge ablaufen. 

Kopfkino Nr. 1: 

„Ich hätte gerne zwei Junggesellen bitte!“ 

Die Zange des Bäckereifachverkäufers senkt sich auf einen Berg zappelnder kleine Männchen, zwei von ihnen werden in die Brötchentüte geworfen werden, vielleicht noch etwas verkatert vom Vorabend, Junggesellenabschied, ja, sie wollten es krachen lassen, aber dieses Ende hatten sie nicht erwartet. Hangover ist ein Scheiß dagegen, denken sie, während sie die Chiasamen aus den Haaren schütteln und sich auf ein Rosinenbrötchen retten. Junge, sagt der eine. Und in der Tat, so heißt der Bäcker. 

Kopfkino 2: 

„Ich hätte gerne zwei Junggesellen bitte!“
„Warten sie, da muss ich hinten nachsehen“, sagt der Bäckereifachverkäufer freundlich und verschwindet Richtung Backstube. Er kommt in Begleitung zweier junger Männern zurück, die ihre Schürzen und ihre Bäckermützen abnehmen, während sie auf mich zukommen. „Genau zwei haben wir noch“ sagt der Verkäufer erfreut.
„Danke“ sag ich und betrachte sie mir. „Ich mag sie eigentlich lieber, wenn sie etwas dunkler sind“ sage ich, „aber sei´s drum.“ 
Ich zahle. Wir gehen. 

Leider muss ich sagen, dass sich nur ein Szenario wirklich ereignet hat, und zwar 

Nr. 3:

„Ich hätte gerne zwei Junggesellen bitte!“
„Die sind leider aus“ sagt der Bäckereifachverkäufer bedauernd und deutet auf die reich gefüllte Auslage mit allerlei anderen Sorten. „Darf´s was anderes sein?“ 
Ich lasse meinen Blick schweifen, schwierig, vom Wikinger über den Proteinkracher bis zum Kürbis-Softie ist wirklich alles dabei. Dann habe ich mich entschieden. Ich zeige auf die besonders kernigen Brötchen links außen. 
„Dann nehme ich zwei Ladykracher, bitte“ höre ich mich sagen. Der Verkäufer mustert mich kurz fragend, dann folgt er meinem Fingerzeig.
„Zwei Roggenkrosser, sehr gerne“ sagt er. 
Das ist mir jetzt schon ein bisschen peinlich. Gott sei Dank hat kein anderer Kunde mitgehört. Manchmal ist der Mindestabstand ja doch zu was gut. 

Würde ich eine Bäckerei aufmachen, denke ich beim Rausgehen, wie würden meine Brötchen heißen? 
Ladykracher ist doch eigentlich gar nicht übel, tröste ich mich. Eine Berlin-Edition könnte es geben: die Gerstengöre. Die Dinkel-Bitch. Oder zu Ehren meines Lieblings-Kneipenwirts: den Weizen-Heinzi. 
Denkbar wäre auch eine Musikedition:  Keim after Keim. We will back You.  

Und weil die Welt noch nicht genug Wortspiele hat, mache ich nebenan einen Friseursalon auf. Und ich nenne ihn Hairy Potter. Oder Haireinspaziert. 
Und daneben den Tätowierladen, und den nenne ich Tattoo Tata. 
Und…

Manchmal ist es ganz schön anstrengend, ich zu sein. 
Davon kann man manchmal wirklich ganz schön müde werden. 

 

Ein Sommerabend (oder: Die Krux mit dem Kontext)

Schon als ich zur Tür reinkomme, spüre ich seinen Blick auf mir.  Kein Zweifel, der junge Mann sieht wirklich attraktiv aus. 
Ein warmer Sommerabend, ein Hauch von Gewitter liegt über der Stadt, ein Luftzug trägt den Duft von Lindenblüten und heißem Asphalt in den Raum. Ich suche mir einen Platz und lächele in mich hinein, denn mein Gefühl hat mich nicht getrogen:

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Michael

Mittwochabend, ich bin zu Gast auf einer Lesebühne in Kreuzberg eingeladen und steige einigermaßen aufgeregt in den 186er Richtung Innenstadt. 
Es ist sehr voll, aber bei einem der Viererabteile im hinteren Bereich ist noch Platz. Ich lasse mich auf den Platz am Gang fallen und will nochmal in meinen Text gucken. Da tippt mich der junge Mann, der mir schräg gegenüber sitzt, vorsichtig an. 

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Mottowochen

Als meine Kinder klein waren, haben sie manchmal Worte erfunden. Weil sie Schwierigkeiten mit der Aussprache hatten, zum Beispiel: Joghurt hieß bei uns lange Loluk, Knoblauchkrabbensalat Nüpapabbe und Eichhörnchen nennen wir auch heute noch liebevoll Hossassa. Meine Freundin Kirsten war damals latent genervt und riet, wir sollten uns doch mal freiwillig beim Bundesnachrichtendienst melden, zum Verschlüsseln von Nachrichten, diese Codes würde im Leben kein normaler Mensch knacken.
Amina, die Tochter unserer Freunde, erfand damals übrigens die Kamütze. Und ich bin auch heute noch dafür, dass dieses wunderbare Wort in den Duden aufgenommen wird.
Doch irgendwann dann, etwa in der Zeit, wo sie aufhören niedlich zu sein, ändern sich die Themen. Und schwupp sind sie 18 und machen – möglicherweise – Abitur. Sie können komplizierte Worte wie Mojito und Caipirinha akzentfrei aussprechen und finden Eltern sehr peinlich, die beim Anblick eines Eichhörnchens im Stadtpark begeistert Hossassa! rufen.  Mottowochen weiterlesen