Mottowochen

Als meine Kinder klein waren, haben sie manchmal Worte erfunden. Weil sie Schwierigkeiten mit der Aussprache hatten, zum Beispiel: Joghurt hieß bei uns lange Loluk, Knoblauchkrabbensalat Nüpapabbe und Eichhörnchen nennen wir auch heute noch liebevoll Hossassa. Meine Freundin Kirsten war damals latent genervt und riet, wir sollten uns doch mal freiwillig beim Bundesnachrichtendienst melden, zum Verschlüsseln von Nachrichten, diese Codes würde im Leben kein normaler Mensch knacken.
Amina, die Tochter unserer Freunde, erfand damals übrigens die Kamütze. Und ich bin auch heute noch dafür, dass dieses wunderbare Wort in den Duden aufgenommen wird.
Doch irgendwann dann, etwa in der Zeit, wo sie aufhören niedlich zu sein, ändern sich die Themen. Und schwupp sind sie 18 und machen – möglicherweise – Abitur. Sie können komplizierte Worte wie Mojito und Caipirinha akzentfrei aussprechen und finden Eltern sehr peinlich, die beim Anblick eines Eichhörnchens im Stadtpark begeistert Hossassa! rufen. 
Die Dialoge werden seltener in diesen Jahren, es sind zunehmend Grunzgeräusche, die man austauscht, und Gott sei Dank habe ich mir rechtzeitig ein wenig Zeichensprache beibringen lassen. Das High-Five ist ja vergleichsweise leicht (sollte man allerdings nicht mit einem Onkel üben, der mal einen Finger verloren hat. Hey, gib mir 5… das ist dann ein blöder Moment.)

Rund um die Abizeit jedenfalls gibt es an den Berliner Schulen dieses Phänomen der sogenannten Mottowochen. Seitens der Schule wird für jeden Tag der Woche ein Motto festgelegt und in entsprechendem Outfit kommen Schüler und Lehrer am jeweiligen Tag in die Schule. „Politiker“ kann so ein Motto sein. Oder „Helden der Kindheit“.  Aus der U-Bahn kann ich berichten, dass an diesem Tag dann sehr häufig Star-Wars-Charaktere und Superhelden anzutreffen sind. Keiner davon aber hat mich je so gerührt wie der Anblick eines etwa 1,90 großen, sehr ernst dreinblickenden Abiturienten in einem Biene-Maja-Kostüm.
Neulich traf ich Amina, also Kamützen-Amina, die das Fichtenberg-Gymnasium besucht. „Und, was habt Ihr gerade für ein Motto?“ wollte ich wissen. „Heute war Asitag“, erwiderte sie gelassen. „War voll cool. Die ganzen Jungs in Jogginghose und mit Prollikettchen und Adiletten. Und die Mädchen alle voll billig, Lea hatte nur so Nippelaufkleber, die musste sich dann aber in Bio was anziehen. (…)
Ich bin als Opfer gegangen.“

Asitag. Ich wundere mich ein bißchen.
Vor ein paar Jahren wurde doch diese Regelung eingeführt, nach der alle Oberschulen sich bestimmte Schwerpunktthemen zuschreiben müssen. Manche haben zum Beispiel einen ausgeprägten naturwissenschaftlichen Zweig, andere sind mit Sprachen unterwegs. Und die Fichtenberg-Oberschule, erinnere ich mich, hat sich damals Gesellschaftswissenschaften auf die Fahne geschrieben und die Sozialkompetenz der Schüler in den Mittelpunkt gerückt. Also… Asitag?!
Ich frage Amina. Ja, sagt sie, es habe deswegen auch riesen Stress gegeben. Und deshalb heiße das Ganze jetzt auch nicht mehr Asitag. Sondern „Mitten Im Leben.“

Na dann.

Warum mir das gerade jetzt einfällt? Nun, ich sitze auf dem Oberdeck des186er. Und es ist offenbar Schulschluss in einer nahegelegenen Schule. Und ich fürchte, das um mich herum – naja, sind keine Mottowochen. Die sind alle echt. Also – mitten im Leben, quasi.

„Ey Waffe, Waffe. Die spinnt doch, Mann. Ey ich kann auch ein Geodreieck als Waffe benutzen, Alter, oder wie heißt das nochmal das Ding, mit dem man so Kreise macht?“
Ich versuche mit aller Kraft, mich von dieser harten Stimmung hier nicht zu sehr touchieren zu lassen. Ich war gerade so schön dabei gewesen, die Regentropfen auf dem Fenster zu beobachten und mich in meinen Februar-Blues reinzusteigern, das kann ich jetzt gerade gar nicht gebrauchen. Aber Weghören kann so schwer sein.
Ich schließe die Augen.
Der vorherrschende Tonfall ist genau der, denke ich, den ich meinem Computer manchmal unterstelle, wenn er zu mir spricht. Wenn er Dinge sagt wie: „Speichern nicht möglich. Die gewünschte Datei kann nicht gefunden werden“. Eine ganz normale Meldung, eigentlich – leider. Aber in meinem Kopf klingt das dann eher wie „Ey, speichern, speichern. Was willst Du?“
Offen gestanden antworte ich dann oft in ähnlichem Tonfall. Aber nur, wenn niemand in der Nähe ist. Diese Computer-Meldungen können einen manchmal irre machen .
Immer wieder gerne ploppt auch das Fenster auf mit dem Text  „Der gewünschte Anhang ist nicht verfügbar“. Und dann denke ich immer, wenn das nächste Mal einer von der Telekom anruft oder so ein Umfragemensch, der nach meinem Mann fragt – dann werde ich genau das antworten. „Der gewünschte Anhang ist leider nicht verfügbar“.
Letzte Woche hat mich mein Smartphone dann gefragt, ob ich den „Modus für leichte Zugänglichkeit“ aktivieren möchte. Ich fühlte mich ein bißchen erwischt. Und habe es dann schon ein wenig persönlich genommen. Und auf „Später erneut fragen“ getippt. Hat es sich aber bis jetzt nicht getraut.

Hier sitze ich nun also in dieser ganz analogen Schulschlussbeschallung und rolle innerlich die Augen. Am Tag zuvor erst war ich mit der U2 unterwegs gewesen und hatte neben einer ganz ähnlichen Gruppe Jugendlicher gesessen. Sie waren so ins Gespräch vertieft, dass sie fast verpasst hätten, auszusteigen. Am U Bahnhof Deutsche Oper rief einer von ihnen mitmal ganz aufgeregt: Ey, Deutsche Opfer, Deutsche Opfer! Da müssen wir raus, Mann! Sie stürzten hinaus, die Türen schlossen. Die Stille war groß.

Auch dieser Tag geht irgendwie vorbei. Als ich am Abend in der Pizzeria meiner Wahl sitze und mit der freundlichen Unterstützung von Montepulciano d´Abruzzo meinen Februar-Blues wieder aufnehme, lausche ich der italienischen Musik. Dolce Vita, denke ich…Und: Dolce Oper…  Am Nebentisch bestellt eine Frau eine Portion Terracotta zum Nachtisch und ich verschlucke mich spontan an meinem Wein.
Ich gebe auf.

Das mit dem Blues, das wird heute nichts mehr.