Rummel!

Wenn der Frühling fast vorbei ist und der Sommer noch nicht angefangen hat. 
Wenn die Bäume ihr leuchtendstes Grün feiern und die Blüten des Wilden Jasmin am Wegesrand die Sinne betäuben,
wenn die Natur erwacht ist, aber die Blattläuse noch nicht, und eine vage Sehnsucht nach Waldmeister und Berliner Weiße sich an die Oberfläche der gebeutelten Stadtseele kämpft – dann ist wieder so weit: Es ist Ende Mai. Und die Steglitzer Festwoche beginnt.

Die Steglitzer Festwoche, „der Rummel“, ist eine Südwestberliner Institution und begleitet mich ein Leben lang.
Im Vorfeld lese ich die Ankündigung im Kiezblatt, von 70. Geburtstag ist die Rede, von Riesenrad, Fahrgeschäften und einem „vielfältigem kulinarischen Angebot“. Ich zögere nicht lange und verabrede mich mit meinem alten Freund Andi, den ich schon seit der Grundschule kenne. Gemeinsam haben wir schon manche Runde in der Geisterbahn gedreht, und egal ob man das jetzt wörtlich oder als Metapher nimmt – es stimmt. 

Schon beim Geländer der Brücke, die über den Teltowkanal zum Eingang führt, geht es los mit den Erinnerungen.
„Ich hatte ihr eine Rose geschossen“, sagt Andi mit glasigem Blick. „Und hier, bei den Fahrrädern – hat sie mich abserviert.“ 

Ach, hätten wir damals nur geahnt, mit welch gelassener Präzision wir die Dinge später in nur drei Halbsätzen zusammenfassen würden. 
Er war so schlimm verliebt in Tanja. Ich war so schlimm verliebt in Stefan. Tage und Nächte verbrachten Andi und ich damit, unseren Herzschmerz zu teilen und einander zu trösten. Wären wir doch nur ineinander verliebt gewesen, es wäre alles so einfach gewesen. 
Aber – wo die Liebe hinfällt. Den Satz hatte ich oft gehört und davon hatte ich schon früh ein Bild. Also, wie das ist, wenn die Liebe hinfällt. Pardauz. Zwischen Ich halte dich und Ich halte dich für ein Arschloch liegen ja manchmal auch nur wenige Wochen, aber das führt jetzt zu weit. 

Einer der ersten Stände, an denen wir vorbeilaufen, ist der Schießstand. 
Hier hatte auch ich für Stefan eine Rose geschossen. Stefan: der Schwarm der halben Klasse, gutaussehend, freundlich, leider gefühlt einen halben Meter kleiner als ich – eine Konstellation, die in unserer Welt damals praktisch nicht vorkam. Zierlich und schutzbedürftig sollten die Mädchen sein, und ich sag mal so: Dass ich besser schießen konnte als er, war der Sache vermutlich nicht zuträglich. 

Wir laufen weiter, hören das Durcheinander von Stimmen, Musik und Automaten, atmen die staubige Luft und die Erinnerungen. 
Wie es war, in der Jaguarbahn zu sitzen, die jetzt Melodie Star heißt. Wie die Bilder der Umstehenden immer mehr verwischten, ob es nun von der enormen Geschwindigkeit kam oder von dem latenten Sauerstoffmangel, weil ich immer freiwillig außen saß. Auch die anderen Sinne melden Erinnerungen. An das demütigende Geräusch, das die Bälle beim Aufprall auf dem Stoffvorhang hinter den Blechbüchsen machten, an die stumpfen Pfeile und die labberigen Luftballons an der Ballonbude. An den Geschmack von kandierten Äpfeln, gebrannten Mandeln und Tränen, und das Gefühl von Zuckerwatte in den Haaren. Ich wollte immer die weiße, die bunten waren mir egal. Wolken am Spieß, drunter machte ich´s nicht. 

Vor dem Riesenrad machen wir kurz Halt und überlegen, mitzufahren. Aber die Kabinen sind inzwischen komplett verglast, da können wir auch in der Schlossstraße Fahrstuhl fahren, dennoch gucken wir eine Weile versonnen zu, wie die Gondeln durch den abendblauen Steglitzer Himmel schwingen.  An dem Imbiss gegenüber hängt ein Schild „Tagessuppe: Bier“. Das muss dieses vielfältige kulinarische Angebot sein, von dem in dem Artikel die Rede war. 

Am Pavillon, in der Mitte des Rummelgeländes, entdecken wir ein Plakat, auf dem die Live-Acts der kommenden Woche angekündigt werden. Eine Band namens „The Clogs“ ist dabei, die uns sogleich in Erinnerung ruft, wie viel Angst wir immer hatten, auf dem Kettenkarussell unsere Schuhe zu verlieren. Wir erinnern uns daran, dass in den Achtzigern regelmäßig Guildo Horn & Die Orthopädischen Strümpfe hier aufgetreten sind. Wir waren nie hingegangen, weil wir den Namen so uncool fanden – nichts ahnend, dass wir Guildo zehn Jahre später beim ESC feiern und auch sehr lieb haben würden. 
So flanieren unsere Gedanken. Eine Weile beobachten wir das Treiben am Kinderkarussell, das noch das gleiche, wenn nicht gar das selbe ist wie in unseren Kindertagen. Feuerwehr, Polizei, Schwan, Hubschrauber. Im Hubschrauber zwei Kinder, daneben besorgte Eltern, die die Kleinen sicherheitshalber festhalten. Endlich macht das Wort Helikoptereltern mal Sinn, denke ich, allerdings fällt mir auch direkt die Geschichte ein, wie ich darauf bestanden hatte, mit meinem damals etwa 4jährigen Sohn bei den Flugzeugen mitzufliegen. Und wir deshalb so schwer waren, dass unseres nicht hochkam. 

Kurz vor dem Ausgang dann: Autoscooter. Übermütiges Gerumpel und Gejohle. 
„Ich hab immer versucht, niemanden anzurempeln“ seufze ich. Andi lacht, und wir finden beide, dass es gut dazu passt, dass ich als Kind auch lieber Annika sein wollte als Pippi. 

„Komm“, sagt Andi. „Wir schießen uns noch ne Rose!“ 
8€ später entscheiden wir, dass ein Lebkuchenherz es auch tun wird. Coole Socke steht auf meinem.
„Pippi Langstrumpf war aus“ sagt Andi, und hängt es mir um den Hals. 

Wir laufen über die Brücke, an der auch heute Fahrräder stehen. Und mit großen Herzen gehen wir unserer Wege.