Mittwochabend, ich bin zu Gast auf einer Lesebühne in Kreuzberg eingeladen und steige einigermaßen aufgeregt in den 186er Richtung Innenstadt.
Es ist sehr voll, aber bei einem der Viererabteile im hinteren Bereich ist noch Platz. Ich lasse mich auf den Platz am Gang fallen und will nochmal in meinen Text gucken. Da tippt mich der junge Mann, der mir schräg gegenüber sitzt, vorsichtig an.
Er deutet auf die Stelle, an der offensichtlich der Nothammer fehlt.
„Guck mal“ sagt er. „Dis hat jemand weggenommen. Dis is gar nich gut, wenn dis jemand wegnimmt.“
„Das stimmt“, sage ich, und begegne kurz seinem aufgeregten Blick hinter den extrem dicken Brillengläsern, bevor ich wieder in meiner Tasche krame.
„Wie alt bist Du?“ fragt er. Ich schaue ihn etwas ratlos an. Einerseits ist er herzzerreißend freundlich, andererseits hört der gesamte Bus auffallend unauffällig zu. „Ich bin siebenunddreißigdreiviertel!“ sagt er stolz, dann:
„Bist Du in meinem Alter?“
„Naja“, antworte ich, „ich bin ein bißchen älter als Du“.
„Wieviel?“ „10 Jahre älter“, sage ich.
„Siebenundvierzigdreiviertel?“
„Ja, so ungefähr…“
„Dann bisst Du nur so ungefähr in meinem Alter, oder?“
„Ja, so kann man das sagen.“
„Ich heiße Michael“ sagt er feierlich und reicht mir seine Hand.
„Hallo Michael, ich bin Sabine“ erwidere ich und gebe ihm meine Hand, die er hoch erfreut und sehr konzentriert zweimal von ganz oben nach ganz unten schüttelt. Sabine ist zwar ein bißchen geschwindelt, aber wie gesagt, der ganze Bus hört zu. Außerdem habe ich seit ich beim Frühschoppen am Anfang so oft Sabine genannt wurde, inzwischen das Gefühl, auch ein bißchen Sabine zu heißen und deshalb kein schlechtes Gewissen.
„Wohin fährst Du?“ fragt Michael. Ich ergebe mich und packe meine Unterlagen in den Rucksack.
Wenn ich jetzt antworte „Zu einer Lesebühne“ dann führt das nur zu Verwirrung. „Zu Freunden“ antworte ich also, und auch das ist ja nicht so ganz gelogen.
„Boah“ sagt Michael staunend. „Zu Freunden, echt? Da freust Du Dich, oder? Oder?“
„Ja“, sag ich „da freue ich mich“. Er erzählt mir, dass er auf dem Weg in die Schloßstraße ist, um einzukaufen. Ganz alleine. Anerkennend hebe ich den Daumen. Er auch. So sitzen wir eine Weile da und freuen uns. Langsam groove ich mich ein in dieses Gespräch.
„Wann kommst Du nach Hause?“ fragt er.
„Oh, das wird sicher spät.“
„Schlaf ich dann schon?“
„Bestimmt“, sage ich. Dann hält unser Bus am U-Bahnhof, ich muss aussteigen. Wir verabschieden uns und winken uns durch die Scheibe noch einmal zu.
Beseelt fahre ich weiter. Danke, Michael. So ätzend es manchmal ist in der BVG unterwegs zu sein – manchmal tut es gut, nicht zu sehr hinter Lesestoff oder Handy abzutauchen und den Blick ein wenig zu heben.
Heute bin ich ungefähr siebenunddreißigdreiviertel, gut gelaunt und auf dem Weg zu Freunden.
Diese Erkenntnis hätte ich in der Eile fast verpasst.