Im Zug nach Zug

Die Zugtüren schließen und mit sanftem Geruckel beginnt die letzte Etappe meiner Reise. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, in einer Viertelstunde geht die Show los und ich werde erst in einer halben Stunde auf der Bühne eintreffen, was mich unter anderen Umständen wahnsinnig stressen würde – aber gemessen am Verlauf des Tages ist das eine wirklich, wirklich gute Nachricht. 
Der Zug ist fast leer, ich mache es mir gemütlich und lasse meinen vermutlich etwas irren Blick aus dem Fenster schweifen. Bereits kurz hinter Zürich verwandelt sich die Landschaft in eine Art Ansichtskartenkatalog. Berge, Seen, Wolkenmeere, umrahmt von zauberhaften Häuschen mit in der Abendsonne glänzenden Dächlein, hier und da flanieren adrette, glückliche Menschen – meine Berliner Synapsen sind überfordert.  
„Puppig!“ hätte mein Vater begeistert gerufen, ein Wort, dessen Existenz mir bis gerade eben völlig entfallen war, und das für meinen Vater ein Ausdruck größter Anerkennung war. Eine Fußgängerzone, eine Sammeltasse, ein hübsches Kleid konnte er puppig finden, wobei die Besonderheit war, dass er es schaffte, das Wort wie ein Berliner Bauarbeiter, der er nun mal war, auszusprechen, er sagte es wie andere Leute in der Kneipe sitzen und Jibs do nich sagen oder Zieh uff Null, die Pfütze und das muss man ja auch erstmal schaffen.
Puppig! ruft es also in mir und es passt, denn wie immer, wenn ich durch die Schweiz reise, fühle ich mich ein bisschen, als hätte man mich in eine Art Puppenstubenszenario gebeamt, umgeben von einer enormen Modelleisenbahnlandschaft. Meine Gefühle schwanken permanent zwischen Begeisterung und Irritation. 

Die Schweiz und ich, ich sag mal – wir üben noch. Unser Verhältnis ist im Grunde kein schlechtes, aber es gestaltet sich doch ein bisschen sperrig bislang. 
Als ich zum ersten Mal dort war, vor drei Jahren im Casino Theater in Winterthur, hatte ich viel Spaß und tolle Erlebnisse, aber vor allem auch viel Hunger, weil ich die dortigen Preise total unterschätzt hatte. Pack dir Essen ein, wir fahrn nach Winterthur hatte Rainald Grebe leider nie gesungen, und so stand ich dann da mit diesem Döner für umgerechnet 16€, und aß in der Kneipe nach der Show verkeimte Nussschälchen leer. 
Beim zweiten Mal Winterthur war ich besser vorbereitet. Ein Lesebühnenkollege hatte mir inzwischen ein Schweizer Taschenmesser geschenkt, für kleine Hotelmahlzeiten, ich hatte Obst, Brot und Käse im Koffer. Schweizer Käse vom Berliner Aldi.

Und nun also die Einladung zur Lesebühne Satz & Pfeffer in Zug. 
Im März der erste Anlauf – der Koffer war gepackt, die Bahn gebucht, und dann streikte ganz spontan die GDL. 
Wegen der Bahn nicht nach Zug zu kommen – ich sag mal, das hat schon was, aber in Anbetracht der verpassten Gage blieb mir das Lachen doch ziemlich im Halse stecken. 

Nun, im Juni, also der zweite Anlauf. Meine Zugverbindung über München wird am Vorabend gecancelt, wegen des Hochwassers im Süden. Ok. Ich tüftele über Nacht eine Route über Basel aus und mit gutem Gefühl mache ich mich am frühen Morgen auf den Weg zum Hauptbahnhof…  hatte allerdings nicht mit dem Staatsbesuch von Herrn Selenskyj gerechnet. Nach GDL-Streik und Hochwasser stehen mir nun Wasserwerfer und gepanzerte Polizeifahrzeuge im Weg. Langsam nehme ich´s persönlich. 
Ich rette mich über Spandau. Und wenn man sich diesen Satz mal auf der Zunge zergehen lässt, dann ahnt man schon, in welcher Verfassung ich zu diesem Zeitpunkt bin, denn um sich in Spandau gerettet zu fühlen braucht es doch einiges. 

Ich mache es kurz – nach 13 ½ Stunden und neun (!) ungeplanten Umstiegen fahre ich nun durch diese Ansichtskartenlandschaft und bin tatsächlich kurz davor, Zug zu erreichen. 
Ich habe mir die Zeit u.a. damit vertrieben, die Durchsagen der Zugbegleiter mitzuschreiben, hier eine Auswahl:

„Meine Damen und Herren, 
herzlich willkommen an Bord des ICE nach Basel SBB, wir verlassen Berlin Spandau mit einer Verspätung von nur 165 Minuten – mehr ist nicht zu sagen.“ 

Kurz vor Göttingen: 
„Meine Damen und Herren, 
aufgrund der Verspätung fährt dieser Zug heute nicht weiter nach Basel, sondern endet hier.“

In Göttingen dann:
„Auch den zugestiegenen Fahrgästen ein herzliches Hallo und willkommen, wir entschuldigen uns schon jetzt für alle Unannehmlichkeiten, in Wagen Nr. 3 stehen kristallklares Wasser, Kekse und Fahrgastrechtformulare für sie bereit.“

Kurz vor Kassel:
„Meine Damen und Herren, wir erreichen in wenigen Minuten Paris, äh – nein.“ 

Kurz vor Freiburg:
„Liebe Fahrgäste, 
in Freiburg findet ein Personalwechsel statt. Ich bedanke mich ausdrücklich bei meinen großartigen Kolleginnen und Kollegen im Serviceteam, im Bistro und in der Putzkolonne. Wir sind dann raus, Ihnen wünschen wir noch… – (*hysterisches Lachen*) – viel Glück!“ 

Kurz vor Basel:  
„Meine Damen und Herren, dieser Zug endet heute in Basel Badischer Bahnhof. Von dort haben sie die Möglichkeit, mit einer der Straßenbahnen nach Basel SBB zu gelangen. Was soll ich sagen? Take care and good bye.“

 Alles in allem also bin ich damit sehr zufrieden, dass ich die Show überhaupt noch erreiche. Die bezaubernden Veranstalter haben ein Taxi zum Bahnhof geschickt. Ich werde so wie ich bin aus dem Taxi durch die Tür direkt auf die Bühne stürmen und vielleicht wird es sich sogar ein bisschen nach Jetset anfühlen, wenn ich dabei mein Haar in den Nacken werfe einen Handrücken an die Stirn lege. Ein Hauch von Glamour. Drama, Baby! „Puppig!“ ruft mein Vater aus dem oberen Rang. Bin da.
Kann losgehen.